1. Juni 2023, eine Mail:
Sehr geehrter Herr Mascher,
vor einigen Wochen wurde mein Sohn Nathan P. gefragt, ob er am Tag der Republik eine Rede zum Thema Demokratie halten möchte. Als politisch interessierter Jugendlicher hat er dies gerne angenommen.
Er hat sich in den letzten Wochen viele Gedanken dazu gemacht. Die Gefahren für die Demokratie liegen ihm dabei am meisten am Herzen: Armut, Neofaschismus und Klimakrise.
Die erste Version seiner Rede war, wie Sie bemerkt hatten, eher eine Wutrede und unpassend an diesem Feiertag.
Daraufhin hat Nathan die Rede umgeändert, um dem Anlass eher zu entsprechen.
Letzten Donnerstag haben Sie mit ihm ausgemacht, dass Sie kleine Korrekturen in seiner 2. Version machen würden und dann seinen Text an das Regierungskommissariat schicken würden.
Stattdessen hat er nun von Ihnen eine neue Rede zugeschickt bekommen, die mit seinen Inhalten fast nichts mehr zu tun hat. Der Text ist anscheinend bereits an das Regierungskommissariat geschickt worden, die sich dann um die Übersetzung kümmern. Somit hat Nathan keinen Einfluss mehr auf das, was er am Freitag vorlesen soll.
Ich finde, dass ein solches Vorgehen nicht korrekt ist.
Wenn ein Jugendlicher gebeten wir eine Rede zu halten, muss man ihm auch zugestehen, dass er seine Rede auch vorlesen darf und ihm nicht eine andere, gefälligere untergeschoben wird.
Ansonsten wäre es ehrlicher dem Jugendlichen von Anfang an mitzuteilen, dass seine Rede zensiert wird, obwohl das ja eigentlich nicht den Werten unserer Demokratie entspricht.
Ich würde mich freuen, wenn Nathan am Freitag seine eigene Rede halten darf. Gerne können Sie mich unter der Nummer ….. erreichen, dann können wir dies gemeinsam besprechen.
Mit freundlichen Grüßen,
V. D.
Der Anlass: Nathan, Schüler einer zweiten Klasse Sprachengymnasium, ist als Sieger des Wettbewerbs Politische Bildung (im Vorjahr hat er den zweiten Platz erreicht) gefragt worden, ob er nicht eine Rede zum Thema Demokratie halten möchte (s.o.).
Er hat gerne angenommen, weil ihm das Thema sehr am Herzen liegt.
Seine Rede hat er mit großer Geduld zwei Mal überarbeitet, die letzte Version liegt auch der Direktion vor.
Dir. Martina Adami hat gemeinsam mit Nathan und dem Beauftragten der PA, Daniel Mascher, zwei Stellen in der Rede geglättet, der Rest der Rede wurde v.a. von Dir. Adami gut geheißen. Sie finde das Ganze eine sehr anschauliche, engagierte Rede, sie verstehe nicht, warum diese Rede nicht zum „Tag der Republik“ passen solle.
Juni, nachmittags, weitere Mail:
Sehr geehrte Frau Adami, sehr geehrter Herr Mascher,
soeben hat mir die Schulamtsleiterin Frau Falkensteiner mitgeteilt, dass Nathans Rede vom Regierungskommissar nicht akzeptiert wurde. Die Begründung war, dass die Rede einen zu politischen Anstrich habe.
Nathan wird deswegen die Rede auf seinem YouTube-Kanal "Studio Previdi" veröffentlichen. Es ist ihm ein Anliegen, auf die Gefahren für unsere Demokratie am Tag der Republik hinweisen zu dürfen.
Mit freundlichen Grüßen
V. D.
Persönlicher Kommentar:
Es ist mir ein riesengroßes Rätsel, wie es möglich sein soll, zum Thema „Demokratie“ keine politische Rede zu formulieren.
Und für mich bleibt eine wesentliche Frage offen: Warum und wozu lädt man Jugendliche ein, sich zu äußern, wenn man ihre Meinung dann doch nicht hören will?
Ich werde das nie verstehen, ich bin sehr, sehr stolz auf unseren Schüler, der sich nach wie vor weigert, die von anderen vorgefertigte Rede vor großem Publikum zu halten und seine Rede statt dessen auf eine andere Art und Weise veröffentlicht.
Dir. Martina Adami
Und der Stein des Anstoßes: Nathans Rede zu „Demokratie heute“
Sehr geehrter Herr Regierungskommissar, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Wir feiern heute den Tag der Republik, einen Tag, an dem wir uns voller Stolz und Freude an die Geburtsstunde unserer Demokratie erinnern. Wir haben heute ein unabhängiges Justizsystem, das für Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit steht. Wir haben ein Parlament, das die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger repräsentiert. Wir haben eine Verfassung, die die Freiheit, Gleichheit und Würde jedes Einzelnen schützt. Um das zu erreichen, haben sich immer wieder Dinge in unseren Köpfen verändern müssen: Früher war das Frauenwahlrecht unvorstellbar, heute ist es für uns eine Selbstverständlichkeit. Früher wurde die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung unterdrückt und heute leben wir in einer autonomen Provinz, die es uns ermöglicht, unsere Sprachen, Kulturen und Eigenheiten gemeinsam zu leben. Wir haben als Nation eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen und zahlreiche Herausforderungen gemeistert.
Doch viele Herausforderungen stehen uns noch bevor, die unsere Demokratie in Italien gefährden:
Zum Beispiel der zunehmende Neofaschismus: Faschisten können auf der Straße ungestraft Andersdenkende verprügeln. Überhaupt beobachten wir eine zunehmende Radikalisierung im politischen Diskurs in Europa. Kritische Journalisten wie Fabio Fazio werden aus dem öffentlichen Rundfunk entfernt. Ranghohe Politiker in unserem Parlament provozieren und hetzen. Und dabei sind doch gerade unsere demokratischen Institutionen, aus dem Antifaschismus geboren. Wie viel Demokratie ist in Italien tatsächlich noch übrig?
Und wie viel Demokratie bleibt uns übrig, wenn die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinander geht? Steigende Lebensmittelpreise, Energiekosten - und Gehälter, die der Inflation nicht angepasst werden, sorgen dafür, dass immer mehr Menschen auch im “reichen” Südtirol verarmen. Dann reicht es, wenn Populisten gegen Minderheiten hetzen und einen Krieg zwischen den Armen entfachen.
Und wie viel Demokratie wird uns übrig bleiben, wenn wir nicht jetzt die Umweltzerstörung stoppen und die Klimakatastrophe verhindern?
Die Hitze des letzten Sommers, der Wassermangel in den letzten Monaten und die Überschwemmungen in der Emilia-Romagna sind ein klares Zeichen dafür, dass die Klimakrise nicht mehr nur “die anderen” betrifft, sondern hier und jetzt bei uns in Italien und in Südtirol angekommen ist.
Wenn Extremwetterereignisse unsere Häuser wegspülen, Ernten ausfallen und nie dagewesene Massen an Klimaflüchtlingen auf uns hereinbrechen, dann wird die Demokratie auch bei uns nicht mehr lange standhalten. Dann haben wir Glück, wenn Populismus und Fakten-Leugnung unsere Demokratie nicht völlig aufgefressen hat.
Deshalb lasst uns versuchen, einen demokratischen Weg in eine lebenswerte Zukunft zu gehen: Welche Hebel müssen wir dafür einsetzen? Welche Maßnahmen führen schneller zum Ziel? Wie können wir unsere Gesellschaft gerecht gestalten? Hierfür braucht es eine mutige Politik, die sich den Klimazielen und den zukünftigen Generationen verpflichtet. Demokratie soll die Kraft sein, die das Klima schützt, denn ein schneller Klimaschutz schützt auch die Demokratie.
Es braucht eine Politik, die unseren Reichtum gerecht verteilt, die Schwächsten unserer Gesellschaft mitnimmt und unsere Demokratie vor populistischen Angriffen verteidigt.
Hierfür braucht es ebenso informierte und teilhabende Bürger, welche die demokratischen Werte und Prinzipien unserer Republik verteidigen. Wir müssen alle unseren Beitrag zum Gelingen unserer Demokratie leisten. Dann werden wir die großen Herausforderungen gemeinsam meistern.
Weiteres finden Sie auch auf dem Youtube-Kanal von Nathan: